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RABINDRANATH  TAGORE

(Gitanjali)

O du meines Lebens Leben!

Immer werd ich mich mühn,

rein meinen Leib zu erhalten,

wissend, daß auf meinen Gliedern

lebendig Dein Hauch ist.

 

Immer werd ich mich mühn, Unwahres
mir fern vom Denken zu halten, wissend:
Du bist die Wahrheit, die mir im Geiste
das Licht der Vernunft entzündet.

 

Immer werd ich mich mühn, von meinem
Herzen die Übel zu treiben und meine
Liebe in Blüte zu halten, wissend: Du
thronest im Allerheiligsten meines Herzens.

 

Und es soll immer mein Streben sein:
Dich offenbaren in meinem Tun, wissend,
daß Deine Macht mir Kraft gibt zum Handeln.

9

Narr, der du suchst, dich auf eignen
Schultern zu tragen; o Bettler, der du
kommst, an eignen Türen zu betteln!

Leg deine Lasten in Seine Hände, Der
alles trägt und schaue nicht zurück in
Bedauern.

 

Deine Begierde löschet sogleich das
Licht der Lampe, die sie mit ihrem Atem
berührt. Unheilig ist sie – nimm nicht
deine Gaben aus ihren unreinen Händen.
Nimm nur, was heilige Liebe dir bietet.

23

Bist Du draußen in stürmischer Nacht
auf deiner Reise der Liebe, mein Freund?
Der Himmel ächzt, wie einer, der verzweifelt.

Kein Schlaf kommt heut Nacht zu
mir. Ich öffne das Tor immer wieder und
schaue ins Dunkel, mein Freund!

Ich kann nichts erkennen vor mir, wo,
frage ich, liegt dein Pfad?

An welch dunklem Gestade des pechschwarzen
Flusses, welch fernem Rande
des dräuenden Forstes, durch welch irrvolle
Tiefe des Schattens suchst du deinen
Weg zu mir, mein Freund?

35

Wo der Geist ohne Furcht ist, das
Haupt man hoch trägt,

Wo Erkenntnis frei ist,

Wo die Welt nicht zum Bruchstück
von engen, häuslichen Mauern wird,

Wo Worte aus Tiefen der Wahrheit
kommen,

Wo unermüdet das Streben den Arm
zur Vollkommenheit ausstreckt,

Wo der klare Strom der Vernunft seinen
Weg nicht verliert in dem trockenen
Sand der Gewohnheit,

Wo der Geist, von Dir geleitet, zu immer
sich weitendem Denken und Handeln geführt
wird –

Zu diesem Himmel der Freiheit, laß,
Vater, mein Land Du erwachen!

36

Dies ist an Dich mein Gebet, Herr
– triff, triff bis zur Wurzel des Mangels
mein Herz.

 

Gib mir die Kraft, leicht meine Freuden
und Sorgen zu tragen.

Gib mir die Kraft, meine Liebe fruchtbar
im Dienste zu machen.

 

Gib mir die Kraft, die Armen nie zu
verleugnen und meine Knie vor frecher
Macht nicht zu beugen.

 

Gib mir die Kraft, meinen Geist über
täglichen Kleinkram zu heben.

Und gib mir die Kraft, meine Kraft
Deinem Willen hinzugeben in Liebe.

                           

38

Daß ich Dich brauche, nur Dich,
soll mein Herz wiederholen endlos. Alle
Wünsche, die mich zerreißen Tag und
Nacht, sind nichtig bis auf den Grund.

 

Wie die Nacht in ihrem Dunkel den
Drang nach Licht birgt, so ringt aus der
Tiefe des Unbewußten der Schrei sich
los: »Ich brauche Dich, nur Dich!«

 

Wie der Sturm sein Ziel im Frieden
sucht, wenn er den Frieden bekämpft
mit all seiner Macht, so schlägt mein Aufruhr
gegen Deine Liebe, und doch ist
mein Schrei: »Ich brauche Dich, nur Dich!«

39

Wenn mein Herz hart und verdorrt ist,

komm über mich mit einem Regen
der Gnade.

 

Wenn die Huld aus meinem Leben
verschwand, komm über mich mit dem
Sturm des Gesanges.

 

Wenn die lärmende Arbeit, das Getöse
ringsum sich erhebt und mich abschließt
vom Jenseits, komm zu mir,

Herr des Schweigens,

mit deiner Ruhe, dem Frieden.

 

Wenn mein bettelhaft Herz sich verkriecht,
im Winkel verschlossen,

brich das Tor, mein König,

und komm mit Gepränge
des Königs.

 

Wenn Begierde die Seele blendet

mit Täuschung und Staub,

o Du Heiliger, Wachender,
komme mit Blitz und mit Donner.

40

Gott hielt mir den Regen zurück,
Tag auf Tag vom verdorrten Herzen.
Feurig nackt ist der Horizont, keine dünnste
Decke von sanften Wolken, kein
schwächster Wink von fernem, kühlenden
Schauer.

 

Schick das zornige Wetter, schwarz wie
der Tod, wenns dein Wunsch ist, das
mit der Geißel des Blitzes den Himmel
von Pol zu Pol peitscht.

 

Doch ruf ab, Herr, ruf ab diese lastende
schweigende Hitze, still, scharf und grausam,
die das Herz mit düstrer Verzweiflung
verbrennt.

 

Laß die Wolke der Gnade schwer niederhängen,
wie der tränende Blick der
Mutter am Tage des Zornes des Vaters.

57

Licht, mein Licht,

weltfüllendes
Licht, augenküssendes,

herzbesänftigendes
Licht!

Ha, das Licht tanzt, mein Liebling,

im Zentrum des Lebens mir;

das Licht rührt, mein Liebling,

die Saiten der Liebe mir;

 

der Himmel öffnet sich,

der Wind weht wild,

ein Lachen fährt über die Erde.

 

Die Falter breiten die Segel

über das Meer von Licht;

Jasmin und Lilien sprießen empor

 in die Wogen des Lichts.

 

Das Licht zerstreut das Gold

über jede Wolke, mein Liebling,

und es streut
verschwenderisch Juwelen.

 

Frohsinn hüpfet von Blatt zu Blatt,
mein Liebling, und maßlose Freude.

Der Strom des Himmels

verläßt seine Ufer,
austreten die Fluten der Freude.

61

Der Schlaf, der auf Kinderauge
ruht – weiß jemand, woher er kommt?
Es geht ein Gerücht, er hat seine Wohnung
im Feendorf, wo im Waldesschatten,
den schwach Glühwürmchen erhellt,
zwei zarte Zauberknospen hängen.
Dort kommt er her,

des Kindes Aug zu küssen.

 

Das Lächeln, das über Kindermund
huscht im Schlaf – weiß jemand, wo es
geboren ist? Es geht das Gerücht, daß ein
junger Strahl des wachsenden Monds den
Rand einer schwindenden Wolke im
Herbst traf – dort ward das Lächeln geboren
im Traum eines taufeuchten Morgens,
das Lächeln, das über Kindermund
huscht im Schlaf.

 

Die süße Frische, die Kinderglieder
sanft umblüht, weiß jemand, wo sie so
lang sich barg?

Ja, als die Mutter noch Braut war,

da drang ihr durchs Herz in
zartem stillen Geheimnis der Liebe –
die süße Frische, die Kinderglieder sanft
umblüht.

62

Bring ich dir buntes Spielzeug, mein Kind, 

dann versteh ich, warum es ein Spiel gibt

von Farben und Wolken und Wasser, 

warum die Blumen so farbig getönt sind

– bring ich dir buntes Spielzeug, mein Kind.

 

Wenn ich sing, um dich tanzen zu lassen, so weiß

ich wahrlich, warum Musik in den Blättern ist, 

warum die Wogen den Chor der Stimmen 

zum Herzen der lauschenden Erde tragen

– wenn ich sing um dich tanzen zu lassen.

 

Bring ich dir Süßigkeit für deine gierigen Händchen,

 weiß ich, weshalb es Honig gibt im Kelche der Blumen, 

warum die Früchte sich heimlich mit süßen Säften anfüllen

– bring ich dir Süßigkeit für deine gierigen Händchen.

 

 Wenn ich dein Angesicht küsse, mein Liebling, 

dich lächeln zu machen, verstehe ich sicher die Lust, 

die vom Himmel herab in das Morgenlicht flutet, 

und welch Entzücken der Sommerwind meinem Leib bringt,

                   wenn ich dich küsse, dich lächeln zu machen. 

RAINER MARIA RILKE

(DAS BUCH DER BILDER)

HERBST

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

ERINNERUNG

Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.

Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder,
an Bilder, an die Gewänder
wiederverlorener Fraun.

 

Und da weißt du auf einmal: Das war es.
Du erhebst dich, und vor dir steht
eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.

DIE LIEBENDE

Ja, ich sehne mich nach dir. Ich gleite
mich verlierend selbst mir aus der Hand,
ohne Hoffnung, daß ich Das bestreite,
was zu mir kommt wie aus deiner Seite
ernst und unbeirrt und unverwandt.

... jene Zeiten: O wie war ich Eines,
nichts was rief und nichts was mich verriet,
meine Stille war wie eines Steines,
über den der Bach sein Murmeln zieht.

Aber jetzt in diesen Frühlingswochen
hat mich etwas langsam abgebrochen
von dem unbewußten dunkeln Jahr.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß, was ich noch gestern war...

 

HERBSTTAG

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Zum Einschlafen zu sagen

Ich möchte jemanden einsingen,

bei jemanden sitzen und sein.

Ich möchte Dich wiegen und kleinsingen

und begleiten schlafaus und schlafein.

Ich möchte der Einzige sein im Haus,

der wüsste: die Nacht war kalt.

Und möchte horchen herein und hinaus

in Dich, in die Welt, in den Wald.

Die Uhren rufen sich schlagend an,

und man sieht der Zeit auf den Grund.

Und unten geht noch ein fremder Mann

und stört einen fremden Hund.

Dahinter wird Stille. ich habe groß

die Augen auf dich gelegt;

und sie halten Dich sanft und lassen dich los,

wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.

Du musst das Leben nicht verstehen...

Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen

so wie ein Kind im Weitergehen

von jedem Wehen 

sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,

das kommt dem Kind nicht in den Sinn.

Es löst es leise aus den Haaren,

drin sie so gern gefangen waren,

und hält den lieben jungen Jahren

nach neuen seine Hände hin.

CHRISTIAN  MORGENSTERN

(Wir fanden einen Pfad)

Neue Gedichte

Stör' nicht den Schlaf der liebsten Frau, mein Licht!

Stör' nicht den Schlaf der liebsten Frau, mein Licht!
Stör' ihren zarten, zarten Schlummer nicht.

Wie ist sie ferne jetzt. Und doch so nah.
Ein Flüstern – und sie wäre wieder da.

Sei still, mein Herz, sei stiller noch, mein Mund,
mit Engeln redet wohl ihr Geist zur Stund.

Sieh nicht

I

Sieh nicht, was andre tun,
der andern sind so viel,
du kommst nur in ein Spiel,
das nimmermehr wird ruhn.

Geh einfach Gottes Pfad,
laß nichts sonst Führer sein,
so gehst du recht und grad,
und gingst du ganz allein.

 

II

Verlange nichts von irgendwem,
laß jedermann sein Wesen,
du bist von irgendwelcher Fehm
zum Richter nicht erlesen.

Tu still dein Werk und gib der Welt
allein von deinem Frieden,
und hab dein Sach auf nichts gestellt
und niemanden hienieden.

Ich will aus allem nehmen

Ich will aus allem nehmen, was mich nährt,
was übereinstimmt mit mir längst Vertrautem;
so wird mir manches stille Glück gewährt.

 

In Eurer Weisheit fand ich manch geheime
Bestätigung zu von mir selbst Geschautem
und brachte sie zu meiner Art in Reime.

 

Es gibt so vieles Schöne, Gute, Wahre;
wie bin ich dankbar, daß ich Mensch sein darf
und immer Neues solcher Art erfahre!'

 

Erfahre denn noch dies dazu: entfernt
bist du vom Ernst noch. Dein Gewissen warf
dir noch nicht vor, daß Weisheit sich nur—lernt.

 

Mit solchem Blumenpflücken, Kränzchenwinden—
was ist getan? sieh dir ins Angesicht
und prüfe, ach, solch allzu lau Empfinden.

Du fühlst der Weisheit Weg noch nicht als—Pflicht.

 

Und so: ob von Glühwürmchen oder Sternen
dir Licht zufließt—dir ist's das gleiche Licht.

Dir sind die echten Tiefen, wahren Fernen
noch stumm; sie, deren Siegel einzig bricht:
ein tiefdemütig lebenlanges—Lernen.

Was klagst du an

Was klagst du an
die böse Welt
um das und dies?
bist du ein Mann,
der niemals Spelt
ins Feuer blies?

 

Hat Haß und Harm
und Wahn und Sucht
dich nie verführt,
daß blind dein Arm
der Flammen Flucht
noch mehr geschürt?

 

Was dünkst du dich
des unteilhaft,
was Weltbrand nährt!
Zuerst zerbrich
die Leidenschaft,
die dich noch schwärt.

 

In dich hinein
nimm allen Zwist,
der Welt sorg nit;
je wie du rein
von Schlacke bist,
wird sie es mit.

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